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Kollektive Aufgabe

Die Traumatisierung Einzelner scheint ein isoliertes Problem zu sein. Das des Traumatisierten und vielleicht noch das seiner Familie. In Wahrheit ist es ein kollektives Problem. Warum?
Ich habe hier einige Meinungen dazu gesammelt.

(wenn Sie auf die Verlinkung klicken, kommen Sie zum vollständigen Beitrag)

 

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Traumaheilung ist Friedensstiftung

Christane und Alexander Sautter - Familientherapeuten und Supervisoren DGSF:

Unsere Überzeugung

In Deutschland gibt es verschiedene gute Praxen, Kliniken und Institute, die traumatisierte Menschen bei der Heilung unterstützen. Die meisten kümmern sich um die Opfer von großen Katastrophen, von Krieg und Folter, Gewaltverbrechen, Terrorismus, Entführungen, Unfällen und Naturkatastrophen. Andere betreuen Menschen, die Schicksalsschläge erlitten oder sich in der Pflege schwer kranker Familienangehöriger körperlich und seelisch erschöpften.
Uns fiel bei unserer Arbeit mit Klienten jedoch immer wieder auf, dass die Traumata, die täglich in Familien und dem näheren Umfeld sozusagen „ganz normal“ passieren, häufig übersehen werden. Die Symptome, die auf Grund der sogenannten „Beziehungstraumata“ entstehen, werden oftmals nicht richtig zugeordnet, und der Klient erhält die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“.
Beziehungstraumata sind jedoch nicht nur die Ursache psychischer Probleme. Wie wir erst kürzlich auf dem Symposium „Menschwerdung“, das von 25. – 26. November in Lindau stattfand, bei dem Vortrag von Professor Dr. Alexander Trost erfuhren, ergab eine Studie US-amerikanischer Versicherungen, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer traumatischen Kindheit und bestimmten körperlichen Erkrankungen gibt.
Durch die moderne Hirnforschung haben wir gesicherte Daten darüber, was Traumata anrichten. Kleinkinder sind besonders verletzlich. Wenn im ersten Lebensjahr bestimmte Impulse nicht oder zu stark kommen, wird die Hirnentwicklung irreversibel geschädigt. Diese Kinder haben einen niedrigeren Intelligenzquotienten, feinere Gefühle wie Mitgefühl können nicht empfunden werden. Straftäter mit einer solchen Schädigung des Gehirns können nicht resozialisiert werden, weil sie gar nicht über die Fähigkeit zur Einsicht verfügen!
Das Wissen um Trauma, seine Entstehung und die Möglichkeiten der Heilung dürfen deshalb nicht nur als persönliches Problem der Betroffenen verstanden werden. Wenn wir die Lebensbedingungen der Kinder anschauen, die sich als Selbstmordattentäter in die Luft sprengen oder die in Frankreich Autos anzünden, müsste Politikern, Führungskräften und Ärzten usw. eigentlich die politische Tragweite einer Traumatisierung der Kinder klar werden. Kriege und soziale Unruhen werden wir in Zukunft nicht durch strengere Gesetze und „intelligente“ Waffen (die noch mehr Trauma verursachen) verhindern können, ganz zu schweigen von explodierenden Kosten im Sozial- und Gesundheitswesen.
Nur ein fundiertes Wissen um Trauma und seine Auswirkungen und um die Möglichkeiten, die Verletzung der Seele zu heilen, wird uns dauerhaft Frieden bescheren. In der Bergpredigt, der zentralen Botschaft des Christentums, sagt Jesus: „Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben... Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden... Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden“ (Matt. 5, 5-9). In diesem Sinne sehen wir unsere Aufgabe, Menschen liebevoll bei der Heilung ihrer seelischen Wunden zu unterstützen, als einen spirituellen Auftrag, als die praktische Umsetzung der christlichen Botschaft. Jeder, der sich dieser Aufgabe verschreibt, wird darüber hinaus seinen Beitrag für den Weltfrieden leisten, denn jeder Mensch, der sein Trauma geheilt hat, ist ein friedliebender Mensch, der zutiefst erfahren hat, dass Gewalt, Abwertung und Misshandlung keine Zukunft haben.
In jedem von uns existiert ein unverletzbar heiler Kern, dem nichts etwas anhaben kann. Die Symptome und die Überlebensmuster sind Trabanten, die um diesen Kern kreisen. Es gilt, diese Trabanten zu erkennen, das Wertvolle zu achten, das Veraltete umzugestalten und daraus ein neues Bild zu komponieren, in dem Selbstwert, Lebensfreude und Vertrauen wieder die Hauptrolle spielen dürfen. Dies zusammen mit unseren Klienten anzustreben ist unser erklärtes Ziel.
Zum Wohle aller Wesen!

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Kollektive Blindheit

Sven Fuchs in seinem Blog Kriegsursachen, destruktive Politik und Kindheit / Beitrag vom 10. April 2014 "Ursachen der Gewalt in der Zentralafrikanischen Republik und wie man daran vorbeisehen kann"

Es gibt etwas, das mich meist auf eine Art noch mehr erstaunt, als das Ausblenden von kindlichen Gewalt-/vernachlässigungserfahrungen als gewichtiger Ursache von (politischer) Gewalt: Das haarscharf an den Ursachen Vorbeischauen.

Unter dem Titel „Die Angst herrscht“  (22.03.2014) hat die in der Zentralafrikanischen Republik aufgewachsene Autorin Silvia Kuntz kürzlich für die ZEIT ihre Sicht auf die Ursachen der aktuellen gewaltvollen Konflikte in dem Land beschrieben. Sie stellt aus ihrer Innenansicht heraus zunächst einmal fest, dass die Gewalt nichts mit Religion zu tun hat. Diese oberflächliche Sicht auf die Religion ist eher etwas, das im Westen gerne als Erklärung dient. Die Hauptursachen sieht sie in zwei Dingen begründet: Mit dem gewaltvollen Tod eines Menschen wird – so glaubt man vor Ort – „das Böse“ ausgelöscht, als Wiedergutmachung sozusagen. (Wobei sie nicht sagt, um welche „Wiedergutmachung“ es geht, die ja - so meine ich - auch eher emotional zu fassen ist). Zum Anderen sieht sie die pure Angst als Ursache. Angst würde den Kindern schon von klein auf eingeredet, Angst vor „Monstern“, Fremden, Neuem usw.

Aber auch diese Erklärungen bleiben letztlich oberflächlich, sie beschreiben eher einen Ist-Zustand und klären nicht die Folgen, die sich aus dieser Feststellung ergeben. Dabei sind schon in dem zweiten Ursachenansatz wichtige Informationen enthalten. Kindern wird schon früh und ständig Angst eingeflößt. Das spricht nicht für ein gesundes Aufwachsen, sondern bereits für etliche traumatische Erfahrungen, je nachdem wie diese Angst unter Kindern verbreitet wird.
Gleich zu Beginn des Artikels schreibt die Autorin. „Ich wuchs als Missionarskind in Zentralafrika auf. Als Kinder spielten wir im Busch, aßen heute bei der einen Mutter, morgen bei der anderen. Wir hockten in verrußten Küchen und tunkten Maniok in Soße. Das klingt ganz romantisch, war es aber nicht. Kinder wurden geschlagen, einmal ging ein Ehemann mit einer Machete auf seinen Rivalen los. Meine Eltern machten den Krankentransport.“

Sie beschreibt deutlich die weit verbreitete häusliche Gewalt und deutet auch das an, was ich „afrikanische Vernachlässigung“ nenne; denn Tanten und Onkels gelten in Afrika als Mütter und Väter, so dass die Kinder mal hier mal da aufwachsen, es gibt keine beständige Kernfamilie. Anschließend beschreibt sie noch, wie die älter werdende Mädchen irgendwann an den Haushalt gebunden werden und viele schon früh – auch im Kindesalter – eigene Kinder bekommen. Hier ist das Fundament dafür beschrieben, dass Säuglinge nicht optimal versorgt werden. Wie auch, wenn die Mütter selbst noch Kinder oder fast Kinder sind? Und zu Recht beschreibt sie noch die Armut und Hoffnungslosigkeit in dem Land.

Kommen wir zurück zu meinem Erstaunen. In dem Artikel wird deutlich beschrieben, dass Kindheit in der Zentralafrikanischen Republik wenig mit Glück und Freude zu tun hat, um es einmal vorsichtig auszurücken. Ich vermute, dass die Autorin sich nie wirklich mit den Folgen von Kindesmisshandlung und-vernachlässigung befasst hat. Ansonsten ist es kaum zu erklären, warum sie die Dinge benennt, aber nicht in einen deutlichen Zusammenhang zu gewaltvollen Konflikten sieht.

Übrigens: UNICEF (siehe Tabelle auf Seite 86) hat repräsentativ festgestellt, dass in der Zentralafrikanischen Republik 89 %  aller Kinder (2-14 Jahre alt) psychische und/oder körperliche Gewalt durch Erziehungspersonen erleben. 78 % erleben körperliche Gewalt. 34 % der Kinder erleben dort sogar besonders schwere körperliche Gewalt. (hierunter wurde verstanden: Schläge oder Tritte ins Gesicht, gegen den Kopf oder Ohren und/oder Schläge mit einem Gegenstand, immer und immer wieder und so hart ausgeführt, wie es geht.) .Nur 4 % der Kinder erleben überhaupt keine erzieherischen Sanktionen oder Gewalt! Diese Zahlen gelten für das Gewalterleben vier Wochen vor der Befragung und nicht für die Gewalterfahrungen in der gesamten Kindheit. Zudem wurden nur Mütter oder - falls diese nicht in der Familie anwesend waren - andere Erziehungspersonen zum Erziehungsverhalten und Gewalthandlungen in der entsprechenden Familie befragt. Vermutlich würden also Befragungen von jungen Erwachsenen zu eigenen Gewalterfahrungen in der Kindheit weit aus höhere Raten ergeben, als die hier festgestellten! Allerdings läßt die Studie folgenden deutlichen Schluss zu:
Von den 33 in der UNICEF-Studie ausgewerteten Ländern fanden sich nur im Yemen noch höhere Raten von Gewalt, besonders auch schwerer Art. In der Zentralafrikanischen Republik finden sich also international verglichen die mit höchsten Raten von Kindesmisshandlung (und übrigens auch extrem hohe Raten bei der Kindersterblichkeit)
Auch die Schule scheint ebenfalls ein für Kinder sehr gefährlicher Ort in dem Land zu sein. 52 % der Lehrkräfte in zentralafrikanischen Grundschulen üben jeden Tag Körperstrafen gegen Kinder aus.  (UNICEF, Plan West Africa, Save the Children Sweden West Africa and ActionAid (2010). Too often in Silence. A report on school –based violence in west and Central Africa. S. 19) 42,2 % der männlichen Schüler in Bangui gaben an, sexuelle Gewalt gegen weibliche Schülerinnen in oder um die Schule herum ausgeübt zu haben. Die selbe zitierte Studie ergab, dass männliche Lehrkräfte Haupttäter von sexueller Gewalt gegen Grundschülerinnen waren, was in Anbetracht der vorgenannten Zahl auf enorm viele Übergriffe schließen lässt. (ebd., S. 23) Die Hälfte der Schüler gab außerdem an, dass körperliche Gewalt die häufigste Form von Gewalt von Schülern gegen Schüler in Grundschulen darstellt. (ebd., S. 31) Die Kinder scheinen ihre selbst erlittene Lektion verinnerlicht zu haben und lösen ihre Konflikte wiederum mit Gewalt.

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Wir teilen dasselbe Trauma - Die Tochter einer Holocaustüberlebenden über ihre deutschen Freunde

In der Zeitschrift chrismon gibt es ein Interview, das da heißt "Fragen an das Leben". In der Augustausgabe wird die israelische Schriftstellerin Lizzie Doron (Jahrgang 1953), Tochter einer Holocaustüberlebenden und Autorin des Buches "Das Schweigen meiner Mutter", in dem sie das Leid der Überlebenden der Schoah beschreibt und wie es sich in der nächsten Generation fortsetzt, interviewt.
Die letzte Frage des Magazins lautet:

Deutsche haben sechs Millionen Juden ermordet. Warum kommen Sie trotzdem gern nach Deutschland?

Lizzie Dorons Antwort lautet:

Berlin ist für mich zu einer zweiten Heimat geworden, jeden Monat bin ich eine Woche in Berlin, ich habe in Kreuzberg eine Wohnung. In Israel habe ich viele Kriege erlebt, viele schlechte Dinge sind dort geschehen. Auf eine gewisse Art ist Berlin der Ort, an dem ich die Wurzeln meiner Familie spüre. Meine Eltern mussten Europa verlassen, und trotzdem hatten sie viele gute ­Erinnerungen an ihr Leben vor dem Krieg. Ich glaube, in Berlin zu sein hilft mir, diese guten Erinnerungen zu berühren. Nein, ich fühle keine Wut, keinen Hass gegenüber Deutschen. Wir teilen dasselbe Trauma. Die meisten meiner deutschen Freunde haben Eltern, die Nazis waren. Sie wuchsen, wie auch ich, mit diesem Schweigen der Eltern auf. Ich brauche diese Freunde, um meine eigene Geschichte zu verstehen, um zu wissen, dass ich damit nicht allein bin. Wir müssen nicht einmal darüber reden, da ist ein tiefes, gegenseitiges Verständnis.

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